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Willkommen im QueerWiki

Aha, noch ein queeres Wiki, gibt's da nicht schon mehrere? Ja, gibt es. Zum Beispiel Nonbinary Wiki, JGBTQIA+ WIKI, MOGAI Wiki usw.
Das finden wir gar nicht so schlimm. Geschlecht ist vielfältig, also kann, ja muss es viele Wikis über Geschlechter/Geschlecht-lichkeit geben. Je mehr Wikis, desto besser. Und alle queeren Wikis haben bei der Beschreibung des „Elefanten im Dunklen Raum“ (Geschlecht) recht, aus ihrer Sicht.

Den Startschuss zu unserem Projekt gab das QueerWiki Projekt, das wir auf unserer Landingpage beschrieben haben und das für uns eine tolle Erfahrung war. Finanziert wurde das Anschubprojekt aus Mitteln des Landes Baden-Württemberg, Ansprechpartnerin waren das Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration. Nun gibt es in Baden-Württemberg bes. in den Kommunen ausgebuffte Projektprofis, zu denen wir nicht gehören. Was, bitte schön, beinhaltet das Landesreisekostengesetz von Baden-Württemberg? Bei solchen Stolpersteinen halfen uns Aktivist:innen imNetzwerk LSBTTIQ Baden-Württemberg, z. B. der von uns sehr verehrte, in 2023 verstorbene Joachim Stein oder Anna und Lioba von Landesnetzwerk Geschäftsstelle, aber auch unsere netten, hilfsbereiten Ansprechpartner:innen im Ministerium. Also, dazu: Täglich wird in Medien gejammert, wie schlimm doch die Bürokratie in Deutschland … Uns scheint: Bei solchen be- und anklagenden Diskursen wird gerne verdrängt, dass in den Ministerien sehr viele, hochengagierte Mitarbeiter:innen sich wirklich bemühen und einen guten Job machen.

Wir starteten etwas übermütig – so schwierig schien uns das Projektziel gar nicht erreichbar: Erstellung eines Lexikons über Diskriminierung queerer Personen und queeres Leid – als Infoquelle für Stakeholder. Damit Queer-Peers, Lehrer:innen, Sachbearbeitende in Behörden, Betrieben, Gesundheitsdienstleister:innen u.a. sich bei Bedarf rasch informieren können. Seriöse Studien zu Diskriminierung queerer Menschen gibt's genug, Tonnen von Statistiken, Erfahrungswissen, dicke Handbücher, Reports … Alles da. Dachten wir. Alles easy.
Und dann kam die Überraschung. Im Rahmen der Vorbereitung der Sindelfinger Konferenz (Kickoff-Meeting) erschauerten wir angesichts der Fülle von Diskriminierungstheorien vieler Wissenschaftszweige: Soziologie, Recht, Psychologie, Ökonomie, Politik, Linguistik … In jeder dieser Wissenschaften gibt es dann noch verschiedene Ansätze: Feministische, diskurstheoretische, phänomenologische, systemtheoretische, kritisch psychologische und und … Gar nicht zu schweigen von einzelnen Schulen mit unterschiedlichen Lehrmeinungen.
Dass Diskriminierung in einer unendlichen Zahl von Erscheinungen auftritt, schwante uns bereits beim Schreiben des Projektantrags, bei unserer weiteren Reise begegneten uns allerlei Phänomene: individuelle, strukturelle, institutionelle und sprachliche Diskriminierung, Gleichbehandlung , Gleichstellung und Gleichberechtigung, Ableism, Lookism, Audismus , Speziesismus, Intersektionalität, Triple Oppression, Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit – OK, wir hören auf… zunächst 8-).

Fazit: Die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Thema scheinen ein riesiges Sammelsurium darzustellen.

Die zweite wichtige Erkenntnis vor der Sindelfinger Konferenz war, dass geschlechtliche Diskriminierung etwas Besonderes ist: Einerseits ist Geschlecht extrem vielfältig und komplex bzw. kompliziert, andererseits gehen geschlechtliche Erlebnisse unter die Haut, wir sind geschlechtlich extrem verletzlich, Geschlecht ist für jeden Menschen eine existenzielle Angelegenheit.
Und: Genauso, wie Geschlecht vielfältig ist, erlebt sich jeder Mensch geschlechtlich einzigartig.
Und die Geschlechtswissenschaft: Sie versucht, so unsere Beurteilung, das kunterbunte einzigartige Erleben in „erlebensferne“, blasse Begriffs-Schablonen zu pressen (z.B. Geschlechtsidentität, Geschlechtsrollen, Geschlechtsausdruck).

Die Sindelfinger Konferenz (Projektkickoff, 28.10. bis 30.10.2022) führte zu markanten Schlussfolgerungen und Forderungen an das Projekt:
Das QueerWiki muss die Lesenden abholen, ihr Erleben und ihre Erfahrungen sind der wesentliche Background. Es weht ein wacher, frischer, kritischer Geist, der verquaste Formulierungen, ideologische G'stanzeln und Belehrungen mit dem Zeigefinger wegweht. Für's QueerWiki werden ausschliesslich hochwertige, glänzende, wissenschaftliche Beiträge verwendet , keine Fakes oder verzerrten „Argumente“. Das QueerWiki kommt Wissenschaftsleugnung konsequent auf die Spur. Innovative Ansätze und Informationen sind die Würze des QueerWiki, sein grosses Plus ist die Verständlichkeit. Im QueerWiki werden alle Informationen und Beiträge von einem zutiefst menschlichen Standpunkt aus in den Blick genommen, Ethik ist die wichtigste Wissenschaft. Das QueerWiki beruht auf einem klaren, integrativen Konzept, Lesende wissen, woran sie sind, das QueerWiki regt zum Nachdenken und nicht zum Nachplappern oder Cocktailpartygeplauder an. Die Auseinandersetzung mit dem QueerWiki fördert die Gesundheit, vermittelt viele Aha-Erlebnisse und gibt ganz viel Kraft und Energie.

„Nach Sindelfingen war vor Hohenheim“: Auf der für Juli 2023 geplanten Fachtagung in Hohenheim (bei Stuttgart) sollte abschliessend beurteilt werden, wie diese Forderungen umgesetzt werden sollten. In der Zeit bis dahin suchten mehrere Panels des BgV nach guten Umsetzungsideen.
Und sie wurden fündig. Hier die wichtigsten Erkenntnisse:

Die QueerTheory neu denken

Ganz wichtig war es sich in die QueerTheory einzuarbeiten. Hier zeigte sich, dass die Nordamerikanischen Diskussionen den Diskussionen im Deutschsprachigen Raum um Jahre voraus sind (einen sehr guten Überblick über den Diskussionsstand im angloamerikanischen Raum leistet das Buch von Hanna McCann). Bei einem Meeting mit englischen Queer-Aktivist:innen am 10.11.2022 in London Heathrow stellte unser Panel QueerWiki-Thesen (also unser Konzept) bezüglich der Queer Theory zur Diskussion. Unser Ansatz sorgte für Überraschung, weil er weniger von Judith Butlers Arbeiten ausgeht, sondern durch die Theorien zweier anderer Philosophen, nämlich Emmanuel Lévinas und Heinrich Barth, geprägt ist.

Ein neues Paradigma: Alteritätsethik

Für den queeren Mainstream ungewöhnlich ist ebenfalls unsere sehr strenge Priorisierung der Ethik/Geschlechtsethik in Gestalt der Alteritätsethik, also das bedingungslose sich Öffnen den Belangen des Anderen, des Nächsten, angesichts unserer aller Verletzlichkeit, wie sie zum Beispiel bei einem Prototyp geschlechtlicher Beziehungen, nämlich den Mutter-Kind-Beziehungen, ge- und erlebt wird, oder der Vaterschaft … Der Andere/Nächste hat Vorrang vor dem eigenen Ego/der „Identität“.
Der Vorteil unseres Alteritätsansatzes: Die gesamte Geschlechtsthematik wird Humanitätsbezogen, fokussiert auf Mitmenschlichkeit, Geschwisterlichkeit.

Neue Grundbegriffe: Geschlechtsleibliche Existenz und ihre "Varianten"

Erstaunen löste auch unsere These aus, dass die Mainstream-Queer-Theorie ein zusammenhangsloses Beieinander von (1) Geschlechtsausdruck, (2) Geschlechtskörper, (3) Geschlechtsidentität und (4) Geschlechtsrolle voraussetzt. Unser integrativer Lösungsversuch besteht darin, den Begriff der geschlechtsleiblichen Existenz einzuführen (das geschlechtliche Dasein), der diese vier Aspekte integriert. Geschlechtsleibliche Existenzmuster (Phänomene) sind z.B. Frau, Mann, queer, lesbisch, schwul, Two Spirits, Kathoy, Hijra, Fa’afine, Intersexed, Enbie, Vater, Mutter, Kind, Schwester, Geschwister …
Der Vorteil des Existenzkonzepts: Körperliche, psychische und soziale Dimensionen von Geschlecht werden in ihrem existentiellen Zusammenhang ganzheitlich fassbar.

Neue Sichtweisen: "Phänomene erscheinen"

Eigentlich ist der Begriff des „Phänomens“ in der Vergangenheit von Philosophen wie Husserl oder Merleau-Ponty, aber auch Hermann Schmitz reichlich strapaziert worden. Trotzdem, der Augsburger Philosoph Jens Soentgen bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt: „Es ist Heinrich Barths Verdienst, mit solchen simplifizierenden Ideen aufgeräumt zu haben. Der Begriff der Erscheinung war ein versteinerter Bestand der philosophischen Überlieferung, man meinte schon zu wissen, was es damit auf sich habe. Heinrich Barth hat aus dem Begriff wieder ein Projekt gemacht.“
Warum ist das Werk des 1965 (!) verstorbenen Heinrich Barth für die Geschlechtswissenschaften so wichtig?
Zunächst einmal: Barth verstand unter einem Phänomen schlicht: „Es ist gemeint: was gesehen, gehört, berührt, d.h. was sinnlich wahrgenommen wird.“ Soentgen: „Barth schliesst an die gewöhnliche Alltagsbedeutung des Wortes an. Seine Philosophie der Erscheinung entwickelt er aber in steter Auseinandersetzung mit den erscheinungsphilosophischen Ansätzen der Tradition - ohne jedoch den Kontakt zum Alltag und seinen Erfahrungen zu verlieren.“
Barth vertrat die Auffassung, dass auch die tiefsten Geheimnisse letztlich immer mit „greifbaren“ Phänomenen verbunden sind. Daher sind Teile der trans Community, die grosse Hoffnung auf „greifbare“ Forschungsergebnisse der Neurowissenschaft setzen, um dadurch trans Phänomene besser zu erklären, durchaus auf einem richtigen Weg (s.u.). Denn: Menschen mit konstitutioneller Geschlechtsinkongruenz (= trans, Enbies), die Bedarf an Medizinleistungen haben, begeben sich in der Regel in den medizinischen Diskurs. Dieser Diskurs ist vom Kausalitätsdenken geprägt. In deren Lebenswelt ist die Medizin oft lebensrettend, wegen der OPs bzw. Hormone. Die Hormontherapie kann ohne Neuro nicht verstanden werden. (siehe unten NeuroGender). Das ist nichts Ungewöhnliches: Jeder Mensch, der sich von einem medizinischen Thema betroffen fühlt, beginnt automatisch mit der Ursachensuche. Das fängt schon bei einnem einfachen Phänomen wie der Erhöhung der Körpertemperatur an („Fieber“). Sofort beginnt die Suche mit der Frage: „Was könnte die Ursache des Fiebers sein?“
Eine weitere Erkenntnis Barths war, dass Phänomene (= Erscheinungen) primär sind oder etwas prosaischer: Es gibt nichts dahinter, von dem man Phänomene ableiten könnte. Ein geschlechtliches Phänomen wie Frau, Mann, Enbie, trans, Mutter, Vater usw. „ist da“, wird erlebt und gelebt, aber das ist unhintergehbar, es gibt kein Phänomen oder abstraktes Prinzip dahinter, von dem es abzuleiten wäre. Es ist ist grundlegend. Alle näheren Bestimmungen und Differenzierungen (Subjekt, Objekt oder welche auch immer) setzen am Phänomen an, nicht hinter dem Phänomen. Es gibt keine geschlechtlichen „Hinter-Welten“. Die Welt ist, wie sie in Erscheinung tritt. Beispiel: trans Personen erleben ihr trans Dasein unvermittelt, zunächst gibt es weder Identität noch ein Hirngeschlecht. Es ist so.
Für Ideologen eine harte Nuss. Psychiater:innen waren früher nahezu fanatisch davon überzeugt, trans wäre Ausdruck einer Perversion, psychischen Störung usw. Also wäre das Phänomen trans abzuleiten z.B. von einem „Etwas“ genannt „Krankheit“.
Das ist jetzt nur eine Kostprobe, die demonstriert, warum Heinrich Barths Werk für die Geschlechtswissenschaften von unschätzbarem Wert ist (Wir werden der Konzeption von Barth einen eigenen QueerWiki Beitrag widmen).
Der Satz vom „primären Phänomen“ hat weitreichende Konsequenzen, auch für die „Transgendermedizin“. Die Schilderungen von trans Personen sind demzufolge „primär“, es gibt nichts zu begutachten, es ist so. Bedeutet sich als Gesundheitsfachperson liebevoll in die Erlebnisse zu vertiefen, aber nicht versuchen zu wollen, diese zu „objektivieren“. Demzufolge stehen Schilderungen von trans Personen mit Mittelpunkt des trans Gesundheitsdiskurses. Wir haben ein Projekt initiiert, das folgerichtig solche Schilderungen sammelt und publiziert (TransDok-Projekt).

Aufbrüche in der Hirnforschung: "NeuroGenderEthics (NGE)"

Auf der Suche nach „greifbaren“ Phänomenen von Geschlecht und Geschlechtsleben spielt zunehmend auch die Hirnforschung eine bedeutsame Rolle. Auch die Hirnforschung geht von den realen Phänomenen im Sinne Barths aus und konnte mithilfe dieses Konzepts bedeutende Erkenntnisse gewinnen. Das Wissen über Geschlechtshormone als eine Art „Mediator“ zwischen Gehirn und anderen Körperregionen, Psyche und Beziehungen hilft uns unser Geschlechtsleben besser zu verstehen. Im deutschsprachigen Raum hat vor allem die Neurowissenschaftlerin Franca Parianen viel dafür getan, dass dieses genderrelevante Wissen nicht einem exklusiven Kreis von Forscher:innen vorbehalten bleibt.

Die Hetze gegen Queer hat wissenschaftliche Konsequenzen

Ein grosses Problem queerer Theorie und Aktivitäten sind die antigenderistischen Movements, die aktiv für die Diskriminierung von queeren Menschen mobilisieren. Zur Stützung ihrer Aktivitäten werden pseudowissenschaftliche Behauptungen und wissenschaftliche Fälschungen eingesetzt.
Daher ist es wichtig, einerseits wissenschaftliche Werkzeuge einzusetzen, die qualitativ hochwertige Studien und Forschungsberichte quasi herausfiltern (Filtertools), also die Spreu vom Weizen trennen, und andererseits die minderwertigen „Berichte“ zu analysieren (Denialismus-Tools).
Hierzu gibt es etablierte Werkzeuge wie systematische Reviews und Metaanalysen, Kritische Diskursanalysen und agnotologische Studien, die im QueerWiki eine grosse Rolle spielen.
Der Vorteil: Man erhält hochwertige wissenschaftliche Ergebnisse („wissenschaftliche Goldwäsche“), auf die man wirklich abstützen kann, es entstehen Impulse für die Weiterentwicklung der Geschlechtswissenschaft (inklusive Geschlechtsmedizin) und die Zivilgesellschaft wird angesichts des rechten Genderbashings gestärkt.

Die Hohenheimer Tagung (15./16.Juli 2023 im Tagungszentrum Stuttgart Hohenheim), die wir in Kooperation mit dem JBI Centre for Health Consumer Ethics and Evidence Based Gender Health Care: A JBI Affiliated Group und der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart veranstalteten, hatte das Ziel die bisher erarbeiteten inhaltlichen Schwerpunkte mit Expert:innen kritisch zu diskutieren und zu evaluieren.
Alexia Kutschmar, Stellvertretende Direktorin des JBI Centers Germany/Switzerland, fokussierte in ihrem Vortrag das Thema Patient:innen-Bedürfnisse in der transgendermedizinischen Versorgung und schilderte „Stolpersteine aus Healthconsumer-Sicht“. Erik von Elm, Direktor von Cochrane Schweiz, referierte über das schwierige Dilemma „Entscheidungen treffen bei geringgradiger Evidenz“. Claudia Haupt, Medizinische Fachstelle für Transgenderpersonen Luzern, präsentierte praktische Überlegungen zum Thema Diskriminierung und Evidenz. Claudia Haupts Ausführungen über die „Geschlechterphilosphische Revolution, inspiriert durch Emmanuel Lévinas“ zeigten aus einer philosophischen Sicht, wie man die Gesundheitsversorgung revolutionieren könnte. Dr. med. Michelle Egloff, Leitende Ärztin des Endokrinologischen Departments des Kantonsspitals Baden (bei Zürich), gab eine sehr aufschlussreiche Präsentation über das Thema „Hormonelle Geschlechtsangleichung und die Perspektive der Endokrinolog*innen“. Einer epidemiologischen Fragestellung widmete sich der Vortrag von Corinna Wintzer, Sprechende des Landesnetzwerks LSBTTIQ Baden-Württemberg, sie präsentierte ein Forschungsgsprojekt mit der Fragestellung „Population von LSBTTIQ*Menschen in Baden Württemberg“. Helga Hedi Denu, Gesundheitspädagogin aus Bad Boll und Direktorin des BgV-Beratungskompetenzzentrums Göppingen, vermittelte im Rahmen ihrer Präsentation „Die Tagung im Kontext des großen Ganzen“ eine queerpolitische Einschätzung des QueerWiki-Projekts. Zudem fanden Interviews mit Tagungsteilnehmer:innen statt; hier das Beispiel eines Podcasts mit Helga Denu und Benjamin Siegel. Ergebnis der Tagung: Es konnten wesentliche Differenzierungen und Konkretisierungen bezüglich des geplanten QueerWiki-Contents erarbeitet werden.


Autorin: Claudia Haupt


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  • Zuletzt geändert: 2024/03/16 05:20
  • von c.haupt